Der magische Dreischritt – vom Umgang mit dem Schmerzkörper

Nachdem wir uns jetzt schon ein wenig mit unserem geliebten Ungetüm vertraut gemacht haben (falls nicht: hier geht´s zum Beitrag „Das Monster in Dir – unser Schmerzkörper“) kommen wir jetzt zu der Frage: Wie werde ich diesen Schmerzkörper los?

Nochmal: Die Identifizierung auflösen

Indem ich – und das ist wirklich der aller-aller-wichtigste und entscheidende Punkt – aufhöre, mich mit ihm zu identifizieren. Ich habe einen Schmerzkörper, aber ich bin nicht mein Schmerzkörper. (Oder um mal ein herrliches Bild des von mir sehr geschätzten Coaches Veit Lindau zu borgen: Solange Du weißt, „Ich habe einen Pudel“, ist alles in Ordnung. Du kannst mit ihm spielen, Gassi gehen, ihn kraulen etc. … In dem Moment aber, in dem Du anfängst zu glauben „Ich bin der Pudel“, hast Du ein Problem!)

Denn dafür, dass wir alle einen solchen seelischen Parasiten in uns tragen, können wir nichts. Wir haben unsere destruktiven emotionalen Muster in frühester Kindheit gelernt, sie gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen. Teile davon haben wir möglicherweise sogar vor der Geburt bereits entwickelt oder übernommen; unter Umständen sind sie schon seit vielen Generationen Teil unseres Volkes, unseres Geschlechts, unserer Hautfarbe, unserer sexuellen Orientierung oder oder. Die Entwicklung unseres Schmerzkörpers geschieht vollkommen automatisch und ohne, dass wir das verhindern könnten.

Und – und das ist die wichtigste Erkenntnis – unser Schmerzkörper hat mit unserem wahren, authentischen Wesen NICHTS, aber auch gar nichts zu tun. Wenn ich mich von einer freundlichen, mitfühlenden und halbwegs reflektierten Frau im Handumdrehen in eine giftspeiende Furie verwandle („Du hast aber auch wieder so geguckt!“), so bedeutet das in der Regel nicht, dass ich eine gespaltene Persönlichkeit habe oder dass der freundliche Teil nur aufgesetzt oder gespielt ist und ich in Wirklichkeit die Furie BIN. Es bedeutet vielmehr, dass ich eine freundliche, mitfühlende und halbwegs reflektierte Frau bin, deren Schmerzkörper soeben getriggert wurde. Punkt, nicht mehr und nicht weniger.

Also nochmal: ich habe einen Schmerzkörper, aber ich bin nicht mein Schmerzkörper.

  

Der magische Dreischritt

Und, glaubt Ihr Euch das schon? Dass Ihr nicht Euer Schmerzkörper seid? Dass der Haß, die Panik, das dramatische Leid in Wirklichkeit nicht Teil Eures Wesens ist?

Je nachdem, wie ausgeprägt unser Schmerzkörper so ist und wie schnell er anspringt, fällt es uns nicht so leicht, uns nicht mit ihm zu identifizieren. Wir schämen uns, sind uns peinlich, versuchen, diese Seite von uns vor der Welt zu verstecken. Jedenfalls, wenn sie uns bewußt wird.

(Oder wir finden, dass wir vorhin auch zu Recht ausgerastet sind und unserem Liebsten eine shakespeare-hafte Szene hingelegt haben, denn er hat ja schließlich… Dann ist unser Weg noch etwas länger.)

Jeder Versuch, unseren Schmerzkörper zu leugnen, zu verstecken, verdrängen oder zu bekämpfen führt jedoch nur dazu, dass er an Macht über uns gewinnt. Jede Energie, die GEGEN den Schmerzkörper gerichtet ist, füttert ihn (ein Energiegesetz in unserem Kosmos), lädt ihn mit neuer, negativer Energie auf.

Daher ist der erste wichtige unserer drei magischen Schritte: das „nur Wahrnehmen“.

 

Der erste Schritt: Nicht wehren, nur wahrnehmen

Sobald wir anerkannt haben, dass ein solcher Schmerzkörper auch in uns existiert, können wir beginnen, ihn bewußt wahrzunehmen. Wir können in den entsprechenden Situationen realisieren, dass unser Schmerzkörper gerade „angesprungen“ ist. Nochmal zur Wiederholung: Das immer dann der Fall, wenn wir emotional irgendwie überreagieren. (Betonung liegt auf „über“ – es gibt auch sehr angemessene emotionale Reaktionen, die zum Menschsein gesunderweise dazu gehören).

Sobald wir also wahrnehmen, dass unser kleines Monster erwacht ist, tun wir jetzt folgendes: wir gehen innerlich einen Schritt zurück. Wir gehen ein klein wenig auf Abstand (und ein klein wenig gelingt meistens) und schaffen schon mal zumindest eine winzige Lücke zwischen uns und unserem Schmerzkörper. Und sobald wir ein kleines Stück abgerückt sind, können wir unseren Schmerzkörper von außen betrachten. „Aha, das ist jetzt mein Schmerzkörper, das bin nicht ich.“ Und wir wehren uns nicht dagegen. Am besten betrachten wir das Geschehen nun wie unser eigener neutraler Uno-Beobachter: mit einer gewissen Neugier vielleicht, aber höflich-distanziert. Wir lassen die Filme einfach ablaufen, wir greifen nicht ein, wollen sie nicht anhalten, nicht weg haben; wir lösen uns ein Stück von der Leinwand und machen es uns in der ersten Reihe bequem.

Auch wenn es sich immer noch schrecklich anfühlt: sobald wir diesen Schritt tun, spüren wir, dass wir ein ganz klein wenig Spielraum bekommen, dass sich die Situation ein ganz klein wenig leichter anfühlt. Das genügt für´s Erste.

Wir verhalten uns vielleicht immer noch automatisch, wir stecken vielleicht immer noch mittendrin in unserem persönlichen Albtraum, aber wir können schon sehen: es ist ein Albtraum, dass hier ist nicht real. Und bereits mit diesem ersten Schritt beginnt das Gefüge sich zu verändern.

Nicht wehren.

 

Der zweite Schritt: Nicht werten

Der zweite Schritt ist für mich nach wie vor der wichtigste: wir werten nicht, was wir wahrnehmen. Wir sitzen zurückgelehnt in der ersten Reihe unserer privaten Drama-Vorführung, schauen uns das Ganze leicht distanziert an und bewerten es nicht. Nur angucken, nicht werten. Sobald wir anfangen, das Wahrgenommene zu bewerten („Oh Gott ist das peinlich, bin ich scheiße, wenn das einer rauskriegt, dass ich in Wirklichkeit SO bin…“), müssen wir uns unweigerlich wieder dagegen wehren. Oder wir verletzen uns damit, was auf´s Gleiche herauskommt. Aber das wollen wir ja nicht mehr. Wir wollen uns nicht wehren (siehe Schritt eins), und wir wollen uns auch nicht mehr verletzen.  Denn dieses Stück, was da vor uns auf unserer inneren Bühne aufgeführt wird, nährt sich aus altem Schmerz. Aus alten, nicht verarbeiteten, festgehaltenen leidvollen Gefühlen. Unserem alten Schmerz.

Und dieser Schmerz ist durchaus real, er existiert wirklich – nur ist er nicht aktuell. Nur hat er mit der auslösenden Situation nichts zu tun. Aber es gibt ihn, und er verdient unsere Beachtung. Unsere liebevolle Zuwendung. Unser Mitgefühl. Denn irgendetwas oder irgendjemand hat gerade – zumeist vollkommen unabsichtlich – eine alte Wunde in uns berührt. Und das tut weh. Und um diesen alten Schmerz zu heilen, müssen wir ihn anerkennen. Ihn willkommen heißen. Ihn nicht ablehnen oder wegdrücken wollen, sondern ihn freundlich begrüßen.

Deshalb ist der Schritt des „Nicht-wertens“ so wichtig: damit wir „dem alten Schmerz keinen neuen hinzufügen“ (Tolle).

Wir lassen also unseren Schmerzkörper an der Oberfläche toben, tauchen gleichsam unter ihm hinweg und widmen uns freundlich und liebevoll den schmerzlichen, alten Gefühlen, die darunter verborgen sind. Und heilen uns dadurch wieder ein Stück mehr.

Nicht werten.

 

Der dritte Schritt: Nicht festhalten

Wenn wir diese beiden ersten Schritte erfolgreich absolviert haben, kommt jetzt der dritte Teil – das Nicht-Festhalten.

Wir neigen oft dazu, Situationen, die unseren Schmerzkörper getriggert haben, immer wieder hervorzuholen, sie bei uns zu behalten und zu jeder sich bietenden Gelegenheit wieder dazu zu benutzen, unseren Schmerzkörper erneut zu füttern. Die Kränkung, die der Chef uns heute morgen zugefügt hat (und die sich eigentlich längst in Wohlgefallen aufgelöst haben könnte), wird zur Mittagspause mit den Kollegen wieder hervorgeholt und nochmal ordentlich durchgehechelt – ein Fest für den Parasiten! Und nachmittags, wenn wir kurz mit unserer Freundin telefonieren, und abends, wenn wir nach Hause zu unseren Liebsten kommen, nochmal. Seht alle her, wie schrecklich ungerecht ich behandelt worden bin – da wetzt jeder Schmerzkörper genüßlich die Krallen.

Dabei waren wir eigentlich schon „durch“, hatten schon realisiert: „Ah, Schmerzkörper-Attacke“, uns nicht gewehrt und nicht gewertet – und jetzt erwischt er uns doch noch durch die Hintertür. Weil wir nicht loslassen, sondern an der schmerzlichen Situation festhalten und sie so wieder und wieder durchleben.

Wisst Ihr, wie man Affen fängt? Man sucht sich einen hohlen Baumstamm mit einem Astloch und legt eine Erdnuss hinein. Dann legt man sich auf die Lauer und wartet.

Der Affe kommt, riecht die Nuss, steckt seine Hand in das Astloch, greift die Nuss – und sitzt in der Falle! Mit der Nuss in der Faust kann er die Hand nicht wieder aus dem Loch ziehen, doch statt die Nuss loszulassen und sich zu befreien, hält er eisern an ihr fest, zerrt panisch an seiner gefangenen Hand und kreischt herzzerreißend, und der Jäger kann ihn in aller Ruhe einfach abpflücken.

Genauso machen wir das auch. Wir krallen uns an der Nuss fest, geraten in Panik, kreischen verzweifelt und leiden in höchster Not – aber wir lassen nicht los. Immer und immer wieder kauen wir die Szene durch und quälen uns damit; ein Schmerzkörper „All-you-can-eat“-Buffet sozusagen. Ich denke, Ihr habt das Bild.

Also: das nächste Mal, wenn Euch Euer Schmerzkörper (in Gestalt des Chefs, der Großtante, des Finanzamtes, des Fahrkartenkontrolleurs oder oder oder) eine Nuss in einen hohlen Baumstamm legt, am besten die Hand gar nicht hinein stecken.

Oder spätestens, wenn ihr merkt, ups ich kriege sie nicht mehr raus, schnell loslassen, Hand rausziehen und Euch in Sicherheit bringen. Und befreit durchatmen. Wie ein Beutetier, das gerade noch den Raubkatzen entkommen ist: einmal komplett den Körper durchschütteln, den Streß wieder abstreifen und dann gemütlich weiter grasen, als ob nichts gewesen sei.

Nicht festhalten.

 

Die Kunst entwickeln

Und damit hätten wir ihn zusammen, den magischen Dreischritt:

Nicht wehren, nicht werten, nicht festhalten. Funktioniert meiner langen Erfahrung nach hervorragend und wirklich immer, wenn man die Technik erst beherrscht.

Bis dahin: üben, üben, üben. Betrachtet dieses Vorgehen als ein mentales Instrument oder Handwerkszeug, welches Euch zuverlässig beste Dienste leistet, wenn Ihr den Umgang mit ihm meistert. Und zur Erlangung wahrer Meisterschaft braucht man Zeit, Geduld, Beharrlichkeit und eben: Übung, Übung, Übung.

Der Weg ist das Ziel. Auf diesem Weg erfahren wir bereits viele kleinere und größere Erfolgserlebnisse und Glücksgefühle, wir erleben immer deutlicher, wie unser Schmerzkörper an Macht und Einfluß verliert, wie wir ihn allmählich ausdünnen, ihm seine Energie entziehen.

Wir erleben auch Rückschläge und „Schmerzkörper-Fütter-Attacken“, das ist total in Ordnung und gehört dazu.

Und wenn ihr wirklich einmal gar nicht anders könnt und euch jetzt sofort unbedingt dem schweren Leid hingeben wollt: genießt es. Tut es bewußt und in voller Absicht und steht dazu: „Ich füttere gerade meinen Schmerzkörper, stör mich nicht!“ Herrlich! Je bewußter und deutlich wir uns das selber machen (und auch dabei nicht bewerten), desto schneller hört es von alleine auf. 

Humor hilft übrigens auch immer. Je weniger wir den ganzen Quatsch ernst nehmen und je mehr wir über die Verrenkungen unseres Schmerzkörpers lachen, ihn vielleicht sogar für seine Originalität bewundern können, desto größer wird der Spalt zwischen uns und ihm. Desto mehr Spielraum gewinnen wir. Raum zum Spielen. Zum Lachen. Zum lebendig Sein. Zum eigen Sein. Zum authentisch Sein. Zum kreativ Sein. Zum Wachsen. Zum Mögen. Zum Lieben. Zum Fehler machen. Zum Lernen. Zum Ausatmen. Zum Leben.

 

Ihr habt jetzt mehr Fragen? Dann schaut doch bei Gelegenheit mal wieder vorbei.

Bis dahin: viel Spaß beim Üben!

Ermunternde Grüße

Lynn