Klassische Akupunktur - wie wir sie meinen
Was verstehen wir unter „Klassischer Akupunktur“ oder haben Sie die richtige Fortbildung gebucht?
Für Eilige: am Ende dieses Textes gibt es einen kleinen „Selbst-Check Klassische Akupunktur“ – damit wir wissen, ob wir dasselbe meinen…;-)
Die Herausforderung
Wenn man – so wie wir – Fortbildungen für Akupunkteure anbietet, ist man vor verschiedene Herausforderungen gestellt.
Die größte dieser Herausforderungen ist der Umstand, dass es in Deutschland keinen einheitlichen Standard der Akupunktur-Grundausbildung gibt. Veranstaltet man also entsprechende Weiterbildungen, so hat man es in der Regel mit einer Gruppe mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelter Kollegen und Kolleginnen zu tun, von denen die meisten unterschiedliche Ausbildungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und ebenfalls unterschiedlicher Nomenklatur durchlaufen haben. Selbst wenn in einer solchen Gruppe einige Teilnehmer von sich sagen, sie hätten „Klassische Akupunktur“ gelernt, offenbart sich bei näherer Betrachtung, dass sie damit längst nicht alle dasselbe meinen. Das ist per se auch kein Problem, kann aber immer wieder zu Mißverständnissen und enttäuschten Erwartungen führen, so dass wir uns entschieden haben, an dieser Stelle einmal klar zu machen, was wir am XinBao-Institut unter „Klassischer Akupunktur“ verstehen, so dass unsere potentiellen Teilnehmer eine eindeutige Orientierung darüber erhalten, was sie bei uns in den entsprechenden Kursen erwartet.
Unser Verständnis – Himmel, Erde, Mensch
Klassische Akupunktur beruht nach unserem Verständnis im Wesentlichen auf den fünf Grundwerken LingShu, Suwen, Nanjing, Maijing und Zhen Jiu Jia Yi Jing. Vor allem die im LingShu beschriebenen Kenntnisse und Nadeltechniken spielen hierbei eine zentrale Rolle. Aus dem Studium dieser Klassiker ergibt sich, dass das Wesen der Klassischen Akupunktur in der Betrachtung, Diagnostik und Behandlung des komplexen und organischen Zusammenwirkens der drei Ebenen von Himmel, Erde und Mensch (Tian Di Ren) liegt. Grundlage jeder Behandlung ist also stets die Differenzierung, auf welcher dieser drei Ebenen sich das Geschehen im System des Patienten abspielt und auf welcher der Ebenen die Ursachen hierfür liegen. Weiterhin gilt es dann herauszufinden, welche jeweils zu den Ebenen gehörenden Strukturen (wie z.B. Leitbahnen, Schichten, zangfu) von Störungen betroffen sind, um welche Art von Störung es sich handelt (z.B. externe oder interne pathogene Faktoren? Ungleichgewichte zwischen Qi, Blut und Flüssigkeiten? Erkrankungen der zangfu? Ein Befall der vier Schichten, der sechs Schichten, der sechs Achsen? Das Zusammenspiel der drei Erwärmer? Trauma? Nicht innen – nicht außen? Eine Kombination zweier oder mehrerer dieser Faktoren? Oder oder oder…) und mit welchen Diagnose- und Behandlungstechniken sie sich am effektivsten regulieren lässt.
Vom Globalen zum Speziellen
Jede Behandlung beginnt demnach damit, sich zunächst ein globales Bild des Gesamtzustandes des jeweiligen Menschen zu machen und sich dann über die jeweils sinnvollste Art der Diagnostik immer mehr zum Speziellen vorzutasten. Diese Vorgehensweise schließt per se eine Einsortierung bestimmter Krankheitsbilder in „Schubladen“ und ein Vorgehen nach „Standardrezepturen“ aus – und widerspricht damit diametral der Art, wie wir im Westen gewohnt sind zu denken und wie wir auch am liebsten in unseren Behandlungen vorgehen würden (die Autorin dieses Textes weiß ein Lied davon zu singen…). Die „klassisch chinesische“ Art der Akupunktur kannte keine Syndrome, keine Symptomlisten oder ähnliches; diese stammen vielmehr aus der erst später entwickelten Kräutertherapie und sind auf die Akupunktur eigentlich nicht anwendbar (!).
Zwei Kern-Techniken der Klassischen Akupunktur – Ping Shen und die San Ci Fa-Nadeltechnik
Die Rolle des Herzens – Ping Shen
„Die Grundlagen der Nadelung legen zwangsläufig fest, dass die Nadelung vor allem und in erster Linie auf dem Shen beruht.“ (LingShu Kap. 8)
Praktischer Ausdruck dieser Kernaussage des LingShu ist die Ping Shen-Behandlungsmethode. Ping Shen bedeutet übersetzt in etwa „Den Shen mit dem Shen behandeln.“ Ping Shen ist ein traditionelles Behandlungskonzept des "Weges des Herzens" -Xin Fa. Ziel dieser Methode ist es, den Kliniker zu befähigen, in der Behandlung eine Veränderung im Wohnraum des Shen in unserem Körper, dem Tan Zhong zu erreichen.
In anderen Worten bedeutet das, dass wir als Behandler lernen, uns während der Behandlung (und am besten eigentlich permanent in unserem gesamten Leben) im Wohnraum unseres Shen, dem Tan Zhong (dem „Herzensraum“) aufzuhalten und von dort aus zu agieren.
Klingt nach Hokuspokus? Mitnichten: Das Ping Shen ist Teil der grundlegenden Linie der Klassischen Akupunktur und führt in der Behandlung zu einer deutlich spür- und sichtbaren Verstärkung und Vertiefung gesetzter Impulse, die sich über die Veränderung der Puls- und Zungenbefunde eindeutig nachvollziehen läßt.
Und die Ping Shen-Arbeit hat natürlich noch einen weiteren schönen Effekt: sie verändert auch unser eigenes Leben und Arbeiten zum Positiven. (Mehr zur Ping Shen-Arbeit finden Sie hier.)
Die „Ur“-Nadeltechnik des LingShu – San Ci Fa
Weiterhin wird in der Klassischen Akupunktur in der Regel nur mit einer einzigen Nadel gleichzeitig am Patienten gearbeitet. Es wird immer nur ein Punkt zur Zeit stimuliert, und je nach Reaktion des Systems dann der nächste Punkt ausgewählt. Die Nadeln werden also nicht liegen gelassen, sondern entfernt, sobald „das Anströmen des Qi“ zu spüren ist.
Wir arbeiten mit der „Ur-„Nadeltechnik aus dem Ling Shu (San Ci Fa), welche in Kap. 7 exakt beschrieben ist und sowohl ein weitgehend schmerzfreies Einstechen als auch ein genaues Erspüren der verschiedenen Qi-Arten aller drei Ebenen von Himmel, Mensch und Erde ermöglicht. In den überwiegend praktischen Workshops wird diese Nadeltechnik vorgestellt und deren Handhabung zumindest kurz geübt, um den Teilnehmern einen direkten Eindruck zu vermitteln.
Fazit
In unseren Fortbildungen geht es darum, Sie mit dieser ursprünglichen Handhabung der Akupunktur bekannt zu machen oder ggf. bereits vorhandenes Wissen und Können beliebig zu vertiefen. So ist es schlichtweg nicht möglich, an einem Workshop, der sich über ein bis zwei Wochenenden erstreckt, ein Thema voll umfassend und abschließend zu behandeln; unser Ansatz ist es vielmehr, Einsichten, Ansätze und Ideen aus der Klassik zu vermitteln, ergänzendes Handwerkszeug anzubieten und damit den Schatz, den Sie in Ihrer Praxis bereits haben, zu bereichern. Und eventuell Ihr Interesse zu wecken oder zu befriedigen, tiefer in diese faszinierende Materie einzutauchen und sich wieder mehr – ganz „back to the roots“ – den Ursprüngen dieser im wahrsten Sinne des Wortes wundervollen, so lebensnahen, lebendigen und auf einem so reichen Erfahrungsschatz basierenden Medizin zu nähern.
Selbst-Check Klassische Akupunktur:
Wenn Sie ganz konkret herausfinden möchten, ob wir dasselbe meinen, wenn wir von „Klassischer Akupunktur“ sprechen, wünschen wir viel Spaß mit unserem kleinen Selbst-Check (nur stichprobenartig, um ein Gefühl zu entwickeln):
1) Sind Ihnen die vier Vereinigungen der Tendino-Muskulären-Leitbahnen vertraut mit ihren Vernetzungsarealen und den vier Vereinigungspunkten Dü 18, RM 3, Ma 8 und Gb 22? Kennen Sie entsprechende Behandlungsprotokolle?
2) Sind Ihnen die divergenten Leitbahnen mit ihren jeweiligen Punkten der Divergenz und der Konvergenz geläufig? Kennen Sie entsprechende Behandlungsprotokolle?
3) Beherrschen Sie über die Puls-, Zungen-, Gesichts- und Haradiagnose hinaus weitere klassische Diagnosemethoden wie die Differenzierung der Ren Yin- und Guan-Pulse sowie die entsprechenden Behandlungsprotokolle?
4) Kennen Sie die klassische Behandlungsmethode des Ping Shen? Und wenden Sie sie an?
5) Arbeiten Sie mit der San Ci Fa-Nadeltechnik, der Grundnadeltechnik aus dem LingShu? Benutzen Sie dabei auch Ihre andere Hand, um mit dem Fingernagel Druck auf die zu nadelnde Stelle auszuüben?
6) Kennen Sie die 27 klassischen Nadeltechniken des LingShu und wenden Sie sie entsprechend differenziert an?
Wenn Sie zwei oder mehr der oben gestellten Fragen mit „ja“ beantwortet haben, dann sprechen wir in Bezug auf Klassische Akupunktur von vornherein dieselbe Sprache und Sie werden sich sofort ganz zu Hause fühlen.
Wenn Sie weniger als zwei oder gar keine der Fragen bejaht haben – herzlich willkommen in der Welt der Klassischen Akupunktur ;-)! Sie befinden sich in bester Gesellschaft der meisten Teilnehmer unserer Fortbildungen, wenig oder keine Vorkenntnisse auf diesem Gebiet sind überhaupt kein Hinderungsgrund, sondern wie gesagt eher die Regel. Gehen Sie einfach davon aus, an diesen Wochenenden viel Neues und vielleicht auch Ungewohntes zu erfahren und zu erleben – und bitte fragen, fragen, fragen Sie, ALLE anderen Teilnehmer werden es Ihnen danken!
Egal, zu welcher der beiden Fraktionen Sie nun gehören - keine Sorge, unsere Workshops sind so konzipiert, dass sowohl Neulinge als auch Fortgeschrittene auf dem Gebiet erheblich für ihre Praxis profitieren. Wir stehen Ihnen auch gerne zur Verfügung, um im Vorfeld aufkommende Fragen zu klären.
Und um auch hier für Klarheit zu sorgen: Sie haben bisher nicht etwas „Falsches“ gelernt, sondern Sie verfügen bereits über ein solides Handwerkszeug, was Sie jetzt noch beliebig durch Neues ergänzen können.